Personal ist ein rares Gut, Unternehmen sind tunlichst darauf bedacht, ihre Leute bei Laune zu halten. Doch die allgegenwärtige Inflation (laut Statistischem Bundesamt 7,9% gegenüber 2021) stachelt Betriebsräte und Gewerkschaften zu je nach Blickwinkel „überfälligen“ bis „unverschämten“ Forderungen an. Müssen sich Getränke-Arbeitgeber also alles gefallen lassen?
Markus Rütters war stinksauer. Der Chef der Deutschen Getränke Logistik DGL hatte mit Vertretern der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten NGG eine erste Verhandlungsrunde zu den neuen Tarifen bei Getränke Essmann hinter sich gebracht. Die in Lingen von jeher fest verankerte NGG forderte 8% mehr Lohn mit einer Vertragslaufzeit von einem Jahr, DGL/Essmann bot nur 4% über zwei Jahre. Man ging scheinbar ohne großen Streit auseinander, ein vereinbarter zweiter Termin sollte Annäherung bringen. Doch hinter den Kulissen hatte die Essmann-Belegschaft insgeheim einen sogenannten „Warnstreik“ organisiert. Ausgerechnet in der Vater- bzw. Herrentagswoche lief Sonntag bis Montagabend in fünf Essmann-Standorten (Potsdam, Bordesholm, Lingen, Westerstede und Dorsten – Berlin-Freyenbrink und Aschersleben waren ausgeklammert) nichts mehr.
Nach dem ersten Wutanfall griff Rütters zur Feder und richtete sich an die „Sehr geehrten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“. Die 8%-Forderung der Tarifkommission zeuge „von einer verantwortungslosen Ignoranz“. Eine solche Erhöhung, so der Chef der 50:50 zu Radeberger Gruppe und Veltins gehörenden DGL, „würde das Unternehmen Getränke Essmann unweigerlich in rote Zahlen führen und somit zu einem Sanierungsfall machen.“ Der „unverhältnismäßige“ Warnstreik sei ein „Zündeln an der Standortsicherheit“.
Rütters sieht Kundenverträge gefährdet. Dem mit Abstand größten Kunden Edeka-Minden-Hannover, der mit Essmann in einer Art Symbiose lebt, wird immer wieder mal nachgesagt, sich eventuell an eigene Mehrweglogistik heranzuwagen, so wie es die Regionsschwestern Rhein-Ruhr,Südwest und Hessenring längst tun. Allerdings wissen die Edekaner um die Komplexität des Geschäfts und wie schwierig es ist, Fahrer und Lagerarbeiter zu bekommen. Und erst recht solche, die in Spitzenzeiten Überstunden schieben. Die Statistik spricht eine eindeutige Sprache: Das Kraftfahrtbundesamt hatte im Januar 2022 fast 50.000 weniger Fahrerkarten im Bestand als ein Jahr zuvor.
Bei Essmann wird indessen wieder geredet. Die DGL hat ihr Angebot auf 4% im ersten Jahr und 2% in 2023 aufgestockt. Wie die Arbeitnehmerseite reagiert ist noch unklar, es sollen sogar weitere Streiks diskutiert werden.
Nicht nur die (mit kräftigen Gesellschaftern ausgestattete) DGL steckt in der Patsche. Die Kosten für Alle Getränkefachgroßhändler explodieren. Um langfristig Abhilfe zu schaffen, müsste mehr in IT und Robotik investiert werden. Doch die anorektischen Spannen, die der Einzelhandel seinen Mehrweg-Lieferanten gewährt, lassen keine Investitionen in automatisierte Prozesse zu. Und aus der Sicht der DGL noch nicht mal Lohnsteigerungen in Höhe der Inflation.
Brauer am Wickel
Mit hohen Lohnforderungen am wenigsten anfangen kann nach eigenem Empfinden derzeit die Brauwirtschaft. Corona hat viele Unternehmen arg ausgezehrt. Der Boom im Einzelhandel konnte in seltensten Fällen das verlorene Gastro-Volumen ausgleichen. Und in keinem Fall die Gastro-Margen. Die Preissteigerungen für Malz, Energie, Glas, Kronkorken, Etiketten, Logistik wurden bisher nur teilweise mit Preiserhöhungen weitergereicht. Der LEH zündelt weiter mit Bieraktionen und akzeptiert Erhöhungen nur mit gleichzeitigen Konditionsverbesserungen. Angesichts der aktuellen Inflation sind jene Brauer froh, die noch laufende Tarifvereinbarungen haben.
Moderate Abschlüsse wie im März noch in Schleswig-Holstein-Hamburg-Meck-Pomm (pauschal 100€, umgerechnet 2,64%) sind erstmal passé. Der Bayerische Brauerbund kam vorletzte Woche nach einer Schlichtung mit 4,14% mehr aus den Verhandlungen (was bei manch prominentem Mitglied zu Unmut führte).
In Niedersachsen tobt der Kampf noch. Die vierte Runde zwischen Nordsozietät-Gf Michael Scherer und der NGG verlief ergebnislos. Die Gewerkschaft fordert 5,75 % mehr Lohn, mindestens aber 200 € pauschal. In drei Wochen sollen die Gespräche fortgesetzt werden. Vermutlich untermalt von Arbeitsniederlegungen.
Artikel aus INSIDE-Ausgabe 903