Herr Gorki, wie bewerten Sie die Einstellung des Handzettels von Rewe?
Man muss dabei verschiedene Dimensionen betrachten. Die eine ist dabei der reine Nachhaltigkeitsaspekt, den die Rewe anführt. Der ist ehrenwert und auch richtig. Der zweite Aspekt ist die Digitalisierung. Es ist richtig in digitale Werbekanäle stärker zu investieren.
Warum?
Wenn wir uns die Kunden anschauen, sehen wir unterschiedliche Generationen: Die Babyboomer, die Generation X, die Millenials und die Generation Z. Da erkennen wir, dass eine massive Veränderung in der Wahrnehmung von Werbung stattfindet und dass dann auch unterschiedliche Marketingkanäle bespielt werden müssen, damit potenzielle Kunden nicht abgehängt werden.
Was bedeutet das konkret für Rewe?
Die Rewe muss nun alternativ in andere Kanäle massiv investieren. Das ist auf der einen Seite der digitale Bereich. Angekündigt hat die Rewe aber auch bereits, dass sie andere Printmedien wie die Tagespresse nutzt. Interessanterweise erreichen solche Inserate laut einer Statista-Studie genauso viele Kunden wie Prospekte und Beilagen. Die Rewe wird definitiv andere kreative Instrumente aufbauen müssen.
Wie können diese kreativen Instrumente aussehen?
Viele Händler müssen in Ihren Vermarktungsideen kreativer werden. Die operative Exzellenz muss weiter optimiert werden. Natürlich spielt dabei auch das Thema Warenverfügbarkeit eine wichtige Rolle. Der Kunde muss noch besser bedient werden, damit die Umsatzpotenzialausschöpfung (UPA) nicht verringert wird. Sollte das funktionieren, könnten auch andere Marktteilnehmer auf ihre Werbeprospekte verzichten.
Welche Vorteile bringt das?
Mit der normalen Printwerbung hat der Handel immer Streuverluste. Zum Beispiel sind Lidl oder Kaufland über ihre eigenen Apps schon sehr nah am Kunden dran. Und jetzt wird bei Kaufland auch noch das Selbstscannen (KScan) ausgerollt. Da sieht der Händler sofort, was der Kunde kauft. Der Kunde bekommt so auf seine App schon heute spezielle Coupons aufgespielt, die er für eine bestimmte Zeit nutzen kann. Oder er bekommt einen monetären Wert, wenn er einen gewissen Einkaufswagenwert überschreitet, mit seinem nächsten Einkauf verrechnet. Damit gibt es dann kaum mehr Streuverluste und zielgruppenorientiertes individuelles Marketing.
Damit verliere ich aber doch die Kunden, die nicht digital unterwegs sind.
Nicht nur die. Auch der routinierte Angebotskäufer fällt weg. Und der Versorgertyp, also junge Familien mit Kindern, die schnell und nicht zu teuer einkaufen und statt Einkaufserlebnis nur Funktionalität haben wollen. Es werden nicht nur ältere Leute abgehängt, sondern durchaus auch jüngere, die keine digitalen Zugänge haben. Wenn wir uns die Generation X und die Babyboomer näher anschauen, dann sehen wir, dass etwa 30% der Generation X regelmäßig online unterwegs sind und dort auch einkaufen. Bei den Babyboomern sind das nur 24%. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass ich bei der Generation X wahrscheinlich schon 50 bis 55% über den digitalen Weg nicht mehr erreiche. Bei den Babyboomern sind das noch mehr. Dies betrifft die Möglichkeit der heute eingesetzten digitalen Technik. Bei den Entwicklungen der letzten Jahre gehe ich davon aus, dass digitale Technik in den nächsten Jahren noch anwenderfreudlicher und leichter wird. Damit dürfte die Erreichbarkeit der o.g. Zielgruppe rasant weiter zunehmen.
Wird das für die Handelskonkurrenz, die noch mit Handzetteln unterwegs ist, also erstmal ein Vorteil sein?
Der Rewe-Handzettel war im Vergleich zur Konkurrenz weniger spektakulär. Die Rewe ist jetzt ein Testballon: Ohne Werbung müssen andere Maßstäbe greifen, damit der Kunde zum Einkaufen kommt.
Sollte das aber nicht funktionieren, was passiert dann?
Dann wird die Rewe schnell nachsteuern und in irgendeiner Form zum Handzettel zurückkehren.
Wie steht die Industrie zu dem Experiment?
In den Jahresgesprächen geht es ja häufig auch um Werbekostenzuschüsse. Wenn die Rewe nun die Industrie bittet, diese Gelder bei veränderten Gegenleistungen weiter zu erhöhen, ergibt sich wahrscheinlich seitens der Industrie Gesprächsbedarf …
Das könnte ein Dilemma werden...
…Rewe wird hervorheben, dass sie in der Kundensprache jetzt ins digitale Zeitalter eintritt. Sicher ist das alles durchdacht und die Rewe wird davon ausgehen, mit diesen Kanälen mehr Umsatz und Absatz zu generieren. Für die Industriepartner ist dies jedoch Neuland und damit unberechenbarer wie die klassischen, gelernten Werbeinstrumente im konservativen Handelsgeschäft.
Was passiert, wenn im Handel die Digitalisierung nicht stattfindet?
Dann gewinnen die Unternehmen, die nur digital unterwegs sind. Weil die Kunden, die zwar digital unterwegs sind, aber noch stationär einkaufen, immer mehr zu digitalen Angeboten abwandern werden. Hier gibt es ja bekannte Käuferstromveränderungen im Non Food Bereich, die ganze stationäre Vertriebskanäle zerlegen bzw. zerlegt haben.
Sollte die Rewe ohne Handzettel erfolgreich sein, wird die Konkurrenz nachziehen?
Davon gehe ich aus. Erhöht sich weiter die operative Exzellenz auf der stationären Fläche ist das wiederum ein großes Element, um sich auch gegen die reinen digitalen Anbieter wie Lieferservices aufzubauen, weil der Handel dann auch in Werbekanälen wie der digitalen Kundenansprache unterwegs ist. Ziel dieser Maßnahmen ist es am Ende immer, dass der Einkaufswagen des Verbrauchers einen höheren Wert erzielt. Hier kommt dann wieder die Umsatzpotenzialausschöpfung zum Tragen. Heute geht es nicht mehr darum, mehr Kunden zu gewinnen. In den letzten acht Jahren haben wir in Deutschland über 150 Millionen Einkaufskontakte verloren. Und das wird im stationären FMCG-Bereich noch weiter zunehmen. Im Vollsortimentvermarkter sind Rewe, Edeka oder Kaufland ungefähr bei einer UPA von 22 bis 24%. Das heißt, der Rest wird bei anderen Händlern ausgegeben, obwohl theoretisch ein volles Warenprogramm zur Verfügung steht. Ziel aller genannten Händler ist es daher, die UPA weiter deutlich zu erhöhen und sein Stück des Kuchens an der UPA des einzelnen Kunden größer werden zu lassen.
Kann der Getränkefachmarkt vom Handzettel-Aus profitieren?
Ich glaube der Fachmarkt partizipiert kurzfristig daran. In den Haushalten werden 80% der Einkaufsentscheidungen über die Frau gesteuert. Männer sind pragmatischer aufgestellt. Liest der Mann, dass es Radeberger im Getränkefachmarkt für 10,99 Euro gibt, dann wird dort das Bier gekauft. Wie nachhaltig das ist, hängt von der Intensität und der Artikelanzahl der Rewe-Werbung in den Zeitschriften und Zeitungen ab. Da werden sicher schnell wieder Bier und AfG eine wichtige Rolle spielen, weil das bei den Vollsortimentern maßgebliche Frequenzbringer sind und kaum Verluste bei Zielkunden aufweist.
Zur Person: Georg Gorki war bis 2017 Chefeinkäufer Getränke bei Kaufland und verantwortete zwischenzeitlich den Gesamteinkauf Osteuropa. Danach wechselte er zu Getränke Hoffmann, im Mai 2021 schließlich als Sprecher der Geschäftsführung zu Beveco.