Prof. Dr. Walter Wincheringer (2.v.li.) ist seit 2014 Professor an der Hochschule Koblenz für den Fachbereich Ingenieurwesen. 2015 gründete er dort das Digitale Produktionslabor (DPL). Der gelernte Maschinenschlosser studierte an der RWTH Aachen Maschinenbau und promovierte in den 90er Jahren zu einem Thema der Künstlichen Intelligenz (KI) am Fraunhofer-Institut für Produktion und Automatisierung (IPA) in Stuttgart. Nach mehreren Jahren als Bereichsleiter Anlagenwirtschaft und Produktion bei der Getränkesparte der Oetker Gruppe wechselte er über Allied Domecq zu Beam und war bis 2010 Gf der Beam Global Operations Deutschland GmbH. Anschließend führte er als Gf die FS Karton GmbH.
Am 15. März 2022 spricht Prof. Wincheringer beim VLB-Logistikfachkongress in Rosenheim über die „Planung und Optimierung von Produktions- und Logistikprozessen am Digitalen Zwilling“.
Herr Professor, warum sollen Unternehmer ihre Hochregallager per digitalem Zwilling optimieren? Geht das nicht auch ohne?
So ein Hochregallager hat eigentlich jeder. Der Teufel steckt im Detail. Wenn Sie das statisch berechnen, liegen Sie oftmals daneben, weil die Aufträge dann doch von den Annahmen abweichen. Der Impuls für unser Projekt GenStore kam von einem Kunden, der wissen wollte, ob wir ihm für sein neues Hochregallager einen digitalen Zwilling bauen könnten, mit dem er seine Durchsatzleistung überprüfen kann. Wir haben das nun so programmiert, dass wir über eine Excel-Schnittstelle mehr als 100 erforderliche Parameter für die Lagersimulation einlesen. Danach kann ich auf Knopfdruck das Simulationsmodell generieren. Diese Idee haben wir dann weiterentwickelt und das Ganze als Software as a service „SaaS“ umgesetzt.
Sollte ich mir als Unternehmer nicht gleich eine Simulationslizenz kaufen und in meiner IT implementieren?
Können Sie schon. So eine Simulationslizenz kostet jedoch häufig 30.000 Euro und mehr für einen Arbeitsplatz, plus die jährlichen Wartungskosten. Da tut sich ein KMU schon schwer. Deshalb kam uns die Idee, wir könnten GenStore doch als SaaS über eine Internet-Plattform anbieten. Der Kunde meldet sich bei uns auf der Homepage, gibt die Daten ein für Lagergeometrie, Regalbediengerät, Bestände, führt anschließend seine Simulationsszenarien durch und kann sich dann das Simulationsergebnis anzeigen lassen mit allem, was er braucht.
Ist eine virtuelle Simulation wirklich so unerlässlich? Was kostet es mich, wenn ich ohne eine solche Simulation mal kurz danebenliege?
Kennen Sie die 10er-Regel?
Nein.
Wenn der technische Vertrieb beim Kunden etwas falsch aufschreibt, dann kann ich das mit 10 Euro reparieren. Wenn der Konstrukteur seinen Entwurf fertig hat und dann fällt der Fehler auf, dann kostet es mich 100 Euro. Wenn es in der Fertigung ist, kostet es mich schon 1.000 Euro. Und wenn ich bei der Inbetriebnahme feststelle, ich habe einen Fehler gemacht, der beim Kundengespräch mit dem Vertrieb entstanden ist, also ganz am Anfang, dann kostet er mich 10.000 Euro oder mehr.
Sofern es nicht ohnehin irreversible Abläufe sind.
Ich kenne das von meiner früheren Zeit in der Getränkebranche. Da rückten die einschlägigen Feststage wie der Valentinstag oder Ostern näher … und dann sollten immer wieder besondere Präsente an die Flaschen beigefügt werden. Dann sagt das Marketing: Ja die Materialien kosten ja nur 10.000 Euro, die können wir doch da in die Kisten werfen. Dann sage ich: Ja, aber es kostet uns 50.000 Euro Produktionsverluste, weil wir die Linie blockieren. Das kann man mit Simulationsmodellen im Vorfeld exakt prüfen – also zum Beispiel welche Auswirkung das hat, wenn man im Vorfeld Produktionsabläufe umstellt.
Teilen Sie die Befürchtung der Branche, dass die Parameter in der Intra- und Außer-Haus-Logistik schon soweit optimiert sind, dass es kaum mehr Einsparpotenziale gibt?
Die einfachen Dinge, die low hanging fruits, sind längst abgefrühstückt. Ich muss heute mit mehr Intelligenz die Prozesse betrachten, die ggf. bisher noch nicht angeschaut wurden. Das gleiche gilt auch für Ressourcenverbrauch und Energie. Nehmen wir mal an, Sie haben ein Getränkelager Heute ist das doch oft so, dass einer sagt: „Da hinten haben wir Platz, stell das mal dahin“! Mit einem Simulationsmodell können Sie die Wege optimieren und festlegen, welcher Artikel mit welcher Abruffrequenz optimal an welcher Stelle im Lager platziert werden müsste.
Das heißt, der Fokus bei der digitalen Simulation liegt inzwischen nicht mehr bei der Optimierung von Produktionsabläufen?
Früher hatte man einen Auftrag, da konnte man an einem Tag 10.000 Stück herstellen. Heute haben Sie auch 10.000 Stück zu produzieren, es sind aber 100 Aufträge. Sie haben 100 Stücklisten, 100 Zeichnungen, 100 verschiedene Materialien zu handeln. Wenn ich das im administrativen Bereich nicht systematisch digitalisiere, habe ich irgendwann durch die hohe Automatisierung zwar weniger Leute in der Produktion, aber umso mehr im administrativen Bereich. Also muss nach der Automation in den wertschöpfenden Prozessen jetzt eine Automation der digitalen administrativen Prozesse im Umfeld erfolgen.
Welche Rolle spielen Mensch-Roboter-Kollaborationen in Ihren Simulationsmodellen?
In der Lebensmittelindustrie werden kollaborierende Roboter immer wichtiger werden, die man beispielsweise für einfache Packtätigkeiten schnell anlernt – denken Sie an Kleinverpackungen für Getränke. So ein Roboter ist nach drei Stunden fertig und macht dann was Anderes – da muss ich aber nicht fünf Leute hinstellen. Personal, insbesondere Fachpersonal, wird zukünftig noch teurer. 300.000 Facharbeiter gehen ab 2025 jährlich in Rente, die können wir nicht ersetzen. Das heißt: Wir müssen vehement automatisieren, damit der Fachkräftemangel der Zukunft uns nicht in der Produktion beschränkt.
Führt die Kluft zwischen denjenigen Unternehmen, die sich digitale Simulation leisten können und dadurch ihre Prozesse optimieren, und denen, die in diesem Bereich außen vor bleiben, denn nicht zu einer immer größeren Wettbewerbsverzerrung?
Da werde ich Ihnen nicht widersprechen – zumindest was den Bereich Ihrer Frage betrifft, der davon ausgeht, dass manche Unternehmen sich digitale Simulationen nicht leisten wollen. Ich halte den Aufwand überschaubar mit Blick auf die Einsparpotenziale. Nach meiner Erfahrung lassen sich durch Simulationen und infolge dessen durch Selbstoptimierung bis zu 15 Prozent der Kosten einsparen. Der Kunde bekommt höhere Produktionszahlen, eine höhere Gesamtanlageneffektivität, geringere Durchlaufzeiten und ein geringeres working capital....
Welche Benchmark muss ich dafür einbuchen?
Lieber mal 15.000 Euro in die Hand nehmen und eine ordentliche Planung haben als sagen: Ich habe drei Angebote, hoffen wir mal, dass sie passen. Unter 15.000 Euro geht es nicht; besser ist es, Sie investieren 30.00 Euro.
Ich möchte noch einmal auf den Facharbeiter zurückkommen. Wie nehmen Sie den mit? Können Sie auch menschliche Arbeitskraft in digitalen Zwillingen abbilden?
Es gibt mittlerweile sehr gute Modelle, mit denen man die Ergonomie des Arbeitsplatzes abbilden kann, insbesondere in der Montage. Ein neuer Mitarbeiter kommt, kriegt die VR-Brille an und durchläuft dann die Arbeitsabläufe in der virtuellen Welt. Damit kann die Einarbeitungszeit an der Montagelinie nach unserer Erfahrung um bis zu 60 Prozent gesenkt werden. Insbesondere bei komplexen Montagevorgängen ist das wichtig, weil sonst ein neuer Mitarbeiter zu viel Produktivität in den konkreten Abläufen vereinnahmt. Wenn dann das Niveau an Zykluszeit erreicht ist, dann kommt der Mitarbeiter mit einem Trainer an die Linie und darf dann live arbeiten.
Ist ja wie in der Formel 1.
Der Weg ist nicht mehr umkehrbar. Ich sehe das nicht so, dass ein Mittelständler sich ein Simulationsteam aufbauen muss. Aber er tut vielleicht gut daran, für die technische Planung einen Ingenieur einzustellen, der schon Grunderfahrung mit Simulation hat. Der kann dann dem Dienstleister auf die Füße treten und die richtigen Fragen stellen.
INSIDE-Schwerpunkt IT/Digitalisierung/Software Ausgabe 896