Wie lange wird die Bundesregierung sich noch weigern können, Gas-Importe aus Russland zu drosseln oder ganz einzustellen? Ein Stopp hängt wie ein glühendes Schwert über der Industrie. Mittlerweile fürchten Brauer und Brunnen Kaskadeneffekte mehr als die ominöse Prioritätenliste der Bundesnetzagentur. Nach zwei, drei Wochen, so die Befürchtung, wäre eine solche Liste ohnehin obsolet.
Bislang galt die Regelung, dass die Netzbetreiber vor Ort entscheiden, wer Gas bekommt und wer nicht. Das kann sich aber schnell ändern. INSIDER gehen davon aus, dass im Notfall – und dieser tritt ein, wenn Gaslieferungen aus Russland ausbleiben – die Bundesnetzagentur aktiv wird. Deren Chef Klaus Müller, 51, ist erst seit 1. März 2022 im Amt; er war zuvor Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbandes. I
Intern wird das Dilemma der Bundesnetzagentur so beschrieben: Sie muss für den Notfall einerseits eine Abschaltreihenfolge für Industriebetriebe in Deutschland erstellen – zugleich aber dementieren, über eine solche Liste zu verfügen. So sagte Müller denn auch diese Woche dem Handelsblatt, eine verbindliche Abschaltliste sei eine „absurde Vorstellung, die der Dynamik nicht gerecht wird“. Man werde aber Entscheidungen treffen müssen, die „furchtbare Konsequenzen für Unternehmen, für Arbeitsplätze, für Wertschöpfungsketten, für Lieferketten, für ganze Regionen haben“.
Aus einem internen Webinar des Deutschen Brauer-Bundes berichten Teilnehmer, die auf Energierecht spezialisierte Rechtsanwältin Yvonne Hanke (Kanzlei Ritter Gent Collegen, Hannover) habe dargelegt, dass durch das nationale Recht nur definiert sei, dass Privathaushalte, Wärmelieferanten, soziale Dienste und systemrelevante Kraftwerke nicht vom Netz genommen werden dürften. Sollte tatsächlich die dritte Notfallstufe ausgerufen werden, sollten kritische Infrastrukturen, also u.a. die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten, gewährleistet werden, möglicherweise auch großchemische Anlagen und die rüstungsrelevante Metallindustrie.
Ob Brauer und Brunnen in der aktuellen Krise ein weiteres Mal als kritischer, ergo: systemrelevanter Teil der Ernährungsindustrie davonkommen wie 2020 beim Ausbruch der Corona-Krise, wird von vielen Beobachtern bezweifelt. Seinerzeit wurde die Branche und mit ihr der Getränkehandel politisch geschützt und durfte weitermachen, anders als in anderen EU-Ländern. Längst raten Verbände ihren Mitgliedern, proaktiv tätig zu werden und selbst auf die Versorger zuzugehen. Argumentationshilfen werden gehandelt wie Rohöl: Ist ein Brauer systemrelevanter als der andere, wenn er alkoholfreie Produkte herstellt? Ein Brunnen, wenn er Kindergärten und Altenheime beliefert? Ein Getränkehändler, wenn er Heimdienst anbietet?
Öltanks, Hackschnitzel und Hamsterkäufe
Fast noch größer als die Angst vor punktuellen Schließungen ist allerdings die vor unkalkulierbaren Kaskadeneffekten. INSIDER rechnen vor, wie binnen zwei bis drei Wochen die Lieferketten zusammenbrechen – für Rohstoffe, Etiketten, Flaschen, CO², Verbrauchsmaterial. Da ist es egal, ob der Brauer oder Brunnen noch Gas erhält oder nicht. „Wir laufen“, so ein Marktteilnehmer gegenüber INSIDE, „gerade in einen tödlichen Dominoeffekt hinein“. Und täglich wird ein solches Szenario wahrscheinlicher. Schon jetzt lässt sich beobachten, dass Brunnen wie Brauer massiv Glasflaschen und Grundstoffe horten. Die Grundversorgung in der Beschaffung steht bei allen Betrieben mittlerweile ganz oben auf der To-Do-Liste; wer über Sortierer verfügt wie Radeberger (mit Leiter) oder die Trinks-Gesellschafter, hat auf jeden Fall einen strategischen Vorteil. Wer nicht, fliegt raus.
Die Optionen der meisten Brunnen und Brauer sind ohnehin limitiert. Wer noch Wechselbrenner im Keller stehen hat, füllt die Öltanks; andere horten Hackschnitzel. Ruhigeren Schlaf finden allenfalls Unternehmer, die in den Vergangenheit systematisch auf regenerative Energien umgestellt haben.
Bei der Bundesnetzagentur hingegen macht sich eine Task Force von 65 Menschen auf schlaflose Nächte gefasst: Feldbetten, Essensrationen und Notstromversorgung seien eingerichtet, heißt es.
Artikel aus INSIDE 899